Dyskalkulie ist eine Rechenstörung , die alle vier Grundrechenarten betrifft. Die Kinder nehmen gerne die Finger zu Hilfe. Sie zählen das Ergebnis aus. Dadurch rechnen sie auffällig langsam. Den Kindern unterlaufen häufig Zahlendreher. Sie haben keine rechte Zahlvorstellung. Große Zahlen sind ihnen unsympathisch: Wenn sie die Aufgabe 7 + 6 lösen können, können sie das nicht automatisch auf die Aufgabe 70 + 60 oder 700 + 600 übertragen. Sie tun sich schwer damit, das 1x1 auswendig zu lernen.
Da in der Mathematik alles aufeinander aufbaut, kommen die Kinder irgendwann nicht mehr mit. Ihnen fehlen die vorausgehenden Stufen: Wer z. B. sein 1 x 1 nicht beherrscht, kann Geteilt-Aufgaben nicht lösen.
Die Rechenstörung ist eine Entwicklungsstörung bzw. -verzögerung. Lesen und Schreiben ist kein Problem, aber das Rechnen fällt schwer und wird vermieden. Dabei sind die Kinder sonst sehr pfiffig und interessiert. Häufig gibt es auch andere Familienmitglieder, bei denen Mathematik ein ungeliebtes Fach war. Forscher nehmen deshalb an, dass es eine genetische Komponente gibt.
Es gibt wirksame Fördermethoden, mit denen man den Kindern helfen kann, richtig zu rechnen und wieder Spaß an Mathematik zu haben. Das Kind erfährt, warum es ihm schwerer fällt als seinen Mitschülern, Rechnen zu lernen. Die individuelle Therapie setzt bei den Stärken des Kindes an. Das Kind schult seine Fähigkeiten und lernt Rechen-Strategien. Ziel ist es, wieder Zutrauen zu den eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und das Selbstbewusstsein zu stärken. Bei einer Förderstunde pro Woche dauern die meisten Therapien etwa zwei Jahre.
Finn konnte schon im Kindergarten die Zahlwörter bis 20 und zählte gerne. Mathematik in der Schule fand er einfach. Er benutzte seine Finger zum Rechnen. Bei Aufgaben wie "4 + 2" zählte er von 4 hoch (..5....6) und hatte das Ergebnis.
Irgendwann wurden die Zahlen größer. Finn verstand das System, nach dem die deutschen Zahlwörter gebildet werden, nicht. Er machte viele Zahlendreher. Die Finger waren bei Aufgaben wie "43 - 17" keine Hilfe mehr. Finn brauchte zum Ausrechnen länger als seine Klassenkameraden und lag beim Ergebnis häufig knapp daneben.
Er hatte keine Lust mehr zum Rechnen. Deshalb hörte er im Unterricht nicht mehr so richtig hin und "vergaß" gerne die Mathe-Hausaufgaben.
Beim schriftlichen Rechnen fiel Finn nicht auf, dass "63 + 12 = 55" falsch sein müsse, weil 55 weniger als 63 ist. In der Mathearbeit fehlte Finn die Zeit, um überhaupt fertig zu werden. So konnte er keine gute Note erreichen.
Die Multiplikation mochte Finn gar nicht: Mit dem Auswendiglernen der 1x1-Reihen wollte es einfach nicht klappen. Die Lehrerin beschuldigte Finn, ein wenig faul zu sein und sich nicht richtig anzustrengen. Finn gab auf. Die Versuche der Eltern, mit ihm zu Hause zu üben, führten zu Streit und Tränen.
In der Lerntherapie verstand Finn, dass sich hinter der Zahl 9 eine Menge von neun Objekten verbirgt. Er entwickelte eine bildliche Vorstellung der 9, die ihm erlaubte, Fragen ganz schnell zu beantworten: "4 plus 5 ergeben 9" oder "9 lässt sich nicht gerecht auf zwei Leute aufteilen".
Finn merkte, dass Rechnen kein mechanisches Abarbeiten von Vorschriften ist, sondern eigentlich "Problemlösen". Es war sinnvoll, nicht gleich anzufangen, sondern erst über den Lösungsweg nachzudenken. Häufig gab es mehrere Lösungswege, die aber unterschiedlich kompliziert waren. Da galt es, den einfachsten auszuwählen, weil einem dann die wenigsten Fehler unterlaufen.
Die Lerntherapeutin zeigte Finn, dass man das 1x1 gar nicht auswendig lernen muss, sondern es sich über die sogenannten Kernaufgaben schnell errechnen kann. Viele Aufgaben, an die Finn sich früher überhaupt nicht herangewagt hatte, wie z. B. Textaufgaben, erschienen ihm jetzt einfach, weil er mit der Lerntherapeutin viele "Rechengeschichten" geschrieben hatte.
Finn berichtete stolz, dass er in der Klasse der erste gewesen wäre, der die Aufgabe "Otto kauft sich ein Jahr lang jeden Monat eine Computerzeitschrift für 5 Euro" richtig gelöst hätte. Die anderen hätten nämlich erst nachschauen müssen, wie viele Monate ein Jahr hat. Er hätte das gewusst!
So wuchs Finns Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Er hörte der Lehrerin aufmerksamer zu, wenn sie etwas Neues erklärte, weil er den Anschluss an seine Klasse wieder erlangt hatte. Zu Hause brauchte er jetzt keine Hilfe mehr bei den Mathe-Hausaufgaben. Als sein kleiner Bruder in die Schule kam, begann er, ihm die "Rechnerei" fachmännisch zu erklären.