Dyslexie ist eine isolierte Lese-/Rechtschreibstörung. Kinder schreiben auch Wörter, die sie schon sehr häufig gesehen haben, wie etwa "die" oder "ich", immer wieder falsch. Sie fügen beim Schreiben Buchstaben ein oder lassen welche aus. Die Kinder verwechseln ähnlich aussehende Buchstaben wie "d" und "b" oder ähnlich klingende Buchstaben wie "d" und "t".
Beim Lesen sind die Kinder langsam. Sie verstehen nicht, was sie lesen. Oder sie lesen falsch, weil sie raten. Diese Kinder sind jedoch überhaupt nicht dumm, sondern im Gegenteil häufig ausgesprochen pfiffig und interessiert.
Die Lese-/Rechtschreibstörung ist eine Entwicklungsstörung. Dieser Bereich entwickelt sich bei dem Kind nicht in demselben Tempo wie andere Bereiche, z. B. das mathematische Verständnis. Fragt man nach, gibt es häufig auch noch andere Familienmitglieder, die unter einer Lese-/Rechtschreibstörung gelitten haben, z. B. der Vater. Forscher nehmen deshalb an, dass es eine genetische Komponente gibt.
Es gibt wissenschaftlich überprüfte wirksame Therapiemethoden, um die Entwicklungsverzögerung aufzuholen. Das Kind erfährt, warum es ihm schwerer fällt als seinen Mitschülern, Schreiben und Lesen zu lernen. Die individuelle Therapie setzt an den Stärken des Kindes an. Das Kind schult seine Fähigkeiten und lernt Strategien zur Fehlervermeidung. Ziel ist es, wieder Zutrauen zu den eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und das Selbstbewusstsein zu stärken. Bei einer Förderstunde pro Woche dauern die meisten Therapien etwa zwei Jahre.
Anna konnte ihren Namen schon schreiben, bevor sie in die Schule kam. Sie war jedoch nicht so gut im Hören - den Unterschied zwischen "d" und "t", "b" und "p" oder "g" und "k" hörte sie nicht. "Schreibe, was du hörst" war für sie so eine schwierige Anweisung.
Einige Buchstaben sahen für sie zum Verwechseln ähnlich aus, zum Beispiel b, d und p. Die Lehrerin wollte, dass sie eine Zeile lang "die" in ihr Heft schrieb. Doch am nächsten Tag schrieb sie schon wieder "di" statt "die".
Im Klassenzimmer war immer viel los. Anna fiel es schwer, nur auf die Lehrerin zu achten. Manches bekam sie einfach nicht mit. So wusste sie häufig nicht, welche Hausaufgaben aufgegeben worden waren.
Während die anderen zügig Fortschritte im Lesen und Schreiben machten, fiel Anna zurück. Sie hatte überhaupt keine Lust mehr zu schreiben und das Lesen vermied sie.
Die Lehrerin beklagte sich, dass Anna zu viel Quatsch im Unterricht mache. Sie wollte, dass sie zu Hause mehr übe, und deutete an, dass sie Anna für ein wenig faul halte. Wenn die Eltern mit Anna üben wollten, gab es Streit und Tränen. Anna fand das Fach Deutsch "doof".
In der Lerntherapie übte Anna, wie man Wörter in Silben einteilt und die Silbenstruktur zum Überprüfen der Schreibweise nutzt. Sie lernte Prüfverfahren kennen, um zu ermitteln, auf welchen Buchstaben ein Wort endet. Wir trainierten die Anwendung von Regeln für die Verwendung von "ie", "tz" oder "ä/äu". Anna war stolz, dass sie auch lange Wörter wie "Schokoladeneis" jetzt fehlerfrei aufs Papier bringen konnte. Das war gut für ihr Selbstbewusstsein.
Sie begann, freiwillig zu schreiben: Einkaufslisten für ihre Mutter (Damit sie das Schokoladeneis auch nicht vergaß!), Wunschzettel und To-do-Listen. Ihr Blick wurde geschärft dafür, wo wir im Alltag überall das Schreiben und Lesen benötigen. Das motivierte sie, sich wieder mit Deutsch zu beschäftigen.
In der Schule hatte sie einen Nachteilsausgleich. Weil bei ihr die Worte nicht so schnell und einfach aus der Feder flossen, sondern sie sie Stück für Stück aufbauen musste, bekam sie mehr Zeit.
Stolz berichtete sie, dass sie die einzige in der Klasse gewesen wäre, die hätte erklären können, warum "Tiger" nicht mit "ie" geschrieben wird. Zu Beginn der Förderung hatte Anna Rechtschreibung noch als Schikane empfunden: "Das weiß doch jeder, dass "di" "die" heißen soll!" Jetzt war Rechtschreibung eine positive Challenge für sie.